Ganz ehrlich: Bis vor ein, zwei Jahren habe ich unsere Stadtbäume kaum beachtet. Mit der Klimadiskussion hat sich meine Wahrnehmung komplett verändert. Seit ich mich intensiver mit der Bedeutung unserer grünen Mitbewohner für (Stadt-)Klima und Lebensqualität beschäftige, sehe ich sie mit anderen Augen. Das Problem: seit die Äste kahl sind, fallen mir immer wieder stark beschnittene Bäume im Stadtgebiet auf. Und seit ich weiß, dass Bäume durch Kappungen irreversibel geschädigt werden, kriege ich bei dem Anblick richtiggehend Bauchschmerzen.

Das Aussehen von acht übel zurückgestutzten Kastanien auf dem Spielplatz „Am Alten Holzplatz“ hat uns (den FLKE) besonders erschüttert, deshalb haben wir einen Fachmann zu Rate gezogen. Laut dem Baumsachverständigen waren die Kappungen in diesem Ausmaß nicht angemessen und haben das Absterben der Bäume in Gang gesetzt. Das Entfernen der Feinäste raubt einem Baum die Lebensgrundlage: Es fehlt an Blattmasse für die Photosynthese, die Wurzeln können nicht mehr ausreichend versorgt werden und sterben ab, große Schnittwunden werden zu Eintrittspforten für Schadpilze und die Statik kann erheblich leiden.

Kastanien, Spielplatz “Am Alten Holzplatz”

Für Pflegemaßnahmen an Bäumen gibt es verbindliche Regelwerke, die von der „Crème de la Crème“ der Baumfachleute verfasst und regelmäßig aktualisiert werden. Sie werden von der obersten Baubehörde (dem Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen) herausgegeben und haben für die öffentliche Hand gesetzähnlichen Charakter. Diese Richtlinien mit sperrigen Namen wie ZTV BP oder Die RAS-LP4* geben konkrete Handlungsanweisungen: Starkäste über 10 cm Durchmesser dürfen laut der ZTV BP nicht abgeschnitten werden, bei besonders empfindlichen Arten wie Kastanie, Birke, Pappel und Weide gilt dies schon für Grobäste mit 5-10 cm. Kappungen gelten als nicht fachgerecht. Im Fachjargon liest sich das so: „Umfangreiches, baumzerstörendes Absetzen der Krone ohne Schneiden auf Zugast/Versorgungsast und ohne Rücksicht auf Habitus und physiologische Erfordernisse“ ist „nicht Stand der Technik“; der noch krassere „Kronensicherungsschnitt“ bzw. die extreme Einkürzung der Krone dient ausdrücklich nur noch dem „zeitlich begrenzten Erhalt des Baumes“.

Freilich trägt die Stadt mit der Verkehrssicherungspflicht eine große Verantwortung. Doch man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass bei uns in Kempten eher zu viel geschnitten wird als zu wenig, nach dem Motto: lieber auf Nummer Sicher gehen! Die Verkehrssicherheit der Stadtbäume darf aber kein pauschales Argument für baumzerstörende Schnitt- und Fällmaßnahmen sein, dafür sind die Stadtbäume zu wertvoll: Es dauert Jahrzehnte, bis ein Baum seine volle Wohlfahrtswirkung für Mensch, Tier und Klima entfaltet. Die Schärfe der „Pflegemaßnahmen“ an unseren Stadtbäumen muss deshalb dringend hinterfragt werden. Dazu gehört, dass die Baumpfleger nur solche Schnitte vornehmen, die der objektiven Gefahrenlage entsprechen. Eingriffe sollten auf ein verträgliches Mindestmaß beschränkt werden und die Vitalität der Bäume nicht gefährden.

Wir sind gespannt auf den Baummanager, der vor kurzem eingestellt wurde. Super, dass es in Zukunft einen Fachmann gibt, der sich hauptsächlich um unsere 35.000 Stadtbäume kümmert. Damit er erfolgreich wirken kann, braucht es jetzt noch: 1. eine klare Ansage pro Baum von OB Kiechle und Baureferent Koemstedt, 2. ein Tiefbauamt, das Bäume nicht als Risikoquelle, sondern als sensibles, unbedingt schützenswertes Gut sieht sowie 3. mündige Bürger, die die Stadtnatur zu schätzen wissen, sie einfordern – und zu Hause bleiben, wenn es stürmt.

* ZTV BP: Zusätzliche technische Vertragsbestimmungen und Richtlinien für die Baumpflege, RAS-LP4: Richtlinien für Anlagen und Straßen, Teil 4: Schutz von Bäumen, Vegetationsbeständen und Tieren bei Baumaßnahmen

(Gesine Weiß)